Ehrlich gesagt, ich habe mir all die Jahre nie Gedanken über den Namen gemacht. Die Siedlungskirche hieß eben schon immer so! Und von all den Konfirmanden und Jugendlichen, die hier täglich ein- und ausgehen, den Kindern, Eltern und Mitarbeiterinnen in der Kindertagesstätte oder den Teilnehmern an Gottesdiensten, Gruppen und Veranstaltungen habe ich die Frage nie gehört. Unsere Kirche in der Altstadt hat wenigstens einen wahrhaftigen Apostel als Namenspatron: St. Andreas! Und die katholischen Nachbarn in der Ruhlsdorfer Straße haben ihre Kirche nach dem Mittelpunkt ihres Gottesdienstes „Sanctissima Eucharistia“ benannt. Aber Siedlungskirche? Das klingt so technisch…
Die Antwort auf die Frage ist in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu suchen: Der erste Weltkrieg war vorbei und Berlin wurde 1920 zur Großstadt: Acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden zu Groß-Berlin zusammengelegt. Über Nacht wurde Berlin mit 3,8 Millionen Einwohnern zur drittgrößten Stadt der Welt nach London und New York! Teltow hatte damals bei der Aktion nicht mitgemacht; der damalige Landrat von Achenbach war erklärter Gegner des Groß-Berlin- Projektes.
Kirchlich gehörte Teltow damals zum Kirchenkreis „Kölln Land I“, der Sitz des Superintendenten Distel befand sich in Lichterfelde. Er erkannte die Situation und trug der Kreissynode 1927 vor: „Wer die Entwicklung… verfolgt hat, wird wahrgenommen haben, dass die ungeheuren Versäumnisse der Jahre nach dem deutsch-französischen Kriege, die starken Zuzug und eine außerordentliche Steigerung der Bautätigkeit brachten, geradezu katastrophal auf das kirchliche Leben gewirkt haben. An diesen Sünden der Väter krankt heute noch Berlin. Wieder stehen wir in einer Nachkriegszeit, wieder reckt sich der Großstadtriese und dehnt sich nach allen Seiten… Der ganze Berliner Südwesten ist, wenn man eine neuere Karte zur Hand nimmt, im Begriff, Siedlungsgebiet zu werden…“
Das galt auch für Teltow. Viele Berliner drängten hierher und suchten Wohnraum. Darüber hinaus hatten viele Großstädter Wochenendgrundstücke, die an Wochenenden und zu Ferienzeiten die Einwohnerzahl Teltows nach oben schnellen ließen. Eine Analyse des Kreissynodalvorstandes von 1928 weist für Teltow u. a. die folgenden Siedlungen aus: Selbsthilfe, Mithilfe, Märkische Heimstätte, Siedlung Ges. Brandenburg, Eigene Scholle, Gem. Siedl. Ges. Lichterfelde, Am Teltower Bahnhof... Siewerden besiedelt von: „Arbeitern, Handwerkern, Beamten, Pensionären und von Kaufleuten“. Daneben wurde zeitgleich die „Siedlung Gartenstadt Seehof“ errichtet, die 1931 entstandene Staedlersiedlung hat bis heute den Begriff „Siedlung“ in ihrem Namen erhalten. Weiter trägt Superintendent Distel vor:
„Am schwierigsten sind die Siedlungen in Stahnsdorf und Teltow zu pastorisieren. Die Gemarkung von Teltow ist außerordentlich groß und die Siedlungen ziehen sich von der Lichterfelder Grenze bis in die Gegend des Bahnhofs Teltow, dann über die Ruhlsdorfer Chaussee bis in die Gegend der Stahnsdorfer Grenze. Von einer geordneten kirchlichen Versorgung kann bei dieser Ausdehnung keine Rede sein, da der Teltower Pfarrer bei einer Seelenzahl von 6.000 und einer sehr schwierigen Bevölkerung kaum in dem geschlossenen Orte fertig werden kann…. An der Sammlung der Kinder muss uns besonders viel liegen, denn sie werden doch sämtlich dem Kindergottesdienst entzogen, wenn sie mit den Eltern draußen sind.“
Die von Superintendent Distel leidenschaftlich vorgetragenen Argumente überzeugten die Synodalen, so dass die Kreissynode am21. Mai 1928 die Anstellung eines eigenen „Kreispfarrers für Siedlungen“ beschloss. Als Wirkungsfeld wurde ihm „die geistliche Versorgung der von den Gemeindepfarrern schwer zu erfassenden Siedlungen, Laubenkolonien, Wochenendplätze und ähnliches…“ zugewiesen. Einen geeigneten Kandidaten dafür hatte sich der Kreissynodalvorstand (heute Kreiskirchenrat) bereits ausgeguckt: „ Der Kreissynodalvorstand hat bereits dem Kreispfarrer Zippel aus Waldenburg (Schlesien) zu einer Gastpredigt und Katechese kommen lassen und ist bereit, ihn zu berufen…“
So viel vorausschauender Fürsorge konnten sich die Synodalen nicht verschließen, zumal das Projekt die Gemeinden des Kirchenkreises anfänglich nichts zu kosten schien: „Die Generalsynode(heute Landessynode) hat auf Antrag von Generalsuperintendenten D. Dibelius dem Kirchensenat Mittel zur Behebung dieser Notstände zur Verfügung gestellt...“ Distel dämpfte jedoch die Erwartungen: „… allein es wird wohl niemand unter uns so optimistisch sein, zu glauben, dass diese Mittel in erster Linie einer Kreissynode von einer Leistungsfähigkeit wie der unseren zugewendet werden möchten….“ Und so erfolgte die Finanzierung des Vorhabens „Kreissiedlungspfarrer“ über das unbeliebte Umlagenprinzip. Das war einigen Synodalen nicht ganz recht, da man bereits durch den Bau des Kleinmachnower Gemeindehauses belastet war.
Pfarrer Konrad Zippel wurde als erster Kreissiedlungspfarrer am 1. März 1929 in sein Amt eingeführt. Seine Dienstvereinbarung besagte: Er „hat im Allgemeinen die Aufgabe, Mittel und Wege für die kirchliche Arbeit in den Siedlungen, Laubenkolonien, Wochenendplätzen usw. ausfindig zu machen und auszubauen. Im Besonderen wird er im Benehmen mit dem Kreissynodalvorstand in bestimmten Siedlungen die Pastorisation als Grundlage seiner Tätigkeit übernehmen“.
Gut zwei Jahre lang versuchte Pfarrer Zippel dem neuen Konstrukt Gestalt und Inhalt zu geben, bis er Ende 1931 in ein Gemeindepfarramt nach Steglitz wechselte. „Unter allen Umständen“, so beschloss der Kreissynodalvorstand jedoch, „müsse die begonnene Arbeit fortgesetzt werden“. Hierzu wurde zum 1.2.1932 der Hilfsprediger Dr. Gerhard Förster als zweiter Kreissiedlungspfarrer berufen. Für seine Dienstvereinbarung bediente man sich der Vorlage Zippels und ergänzte die Aufgaben um die „Übernahme der geistlichen Versorgung einer geschlossenen Gemeinde“. Hiermit war die Verwaltung der Gemeinde Ruhlsdorf gemeint, die, damals zu Stahnsdorf gehörig, vakant war. Für das Siedlungspfarramt organisierte Förster einen Versammlungsraum am Bahnhof Teltow, hielt dort Kindergottesdienste, begann eine Jugendarbeit und stellte eine Gemeindeschwester ein. Die anfallenden Kosten erbat er sich von der Kirchengemeinde Teltow. Der Plan, eine Baracke zu errichten, wurde zurückgestellt. Die Amtszeit Pfarrer Dr. Försters war durch Krankheitszeiten überschattet; er verstarb am 31. Juli 1934.
Inzwischen hatten die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernommen und auch in der Evangelischen Kirche die Leitungsebenen besetzt. Der sich dagegen formende Widerstand im „Pfarrernotbund“ und der daraus gewachsenen „Bekennenden Kirche“ zeigte sich im Kirchenkreis Kölln Land I besonders stark. Der Bekenntnispfarrer und Superintendent Max Diestel besetzte mutig frei gewordene Stellen mit Pfarrern der oppositionellen Bekennenden Kirche.
Dazu gehörte auch Pfarrer Dr. Hans Böhm, der wegen seines Protestes gegen die neue „braune“ Kirchenleitung von seinem Amt in der obersten Kirchenbehörde beurlaubt wurde. Diestel berichtete dem Konsistorium „dass der Kreissynodalvorstand den Pfarrer Hans Böhm in Berlin-Pankow auf den 15. Oktober 1934 (nach mündlicher Absprache des Herrn Pfarrer Dr. Böhm mit Herrn Propst Otto Eckert und der Reichskirchenregierung) in die durch den Tod des Pfarrers Dr. Gerhard Förster erledigte Kreispfarrstelle im Kirchenkreis Kölln Land I berufen hat. …“. Böhm wird so der dritte Kreissiedlungspfarrer. Von einer feierlichen Einführung wird abgesehen, da er „ als Siedlungspfarrer weder eine eigene Gemeinde, noch ein Gotteshaus hat und die Kirchengemeinde Ruhlsdorf von ihm nur kommissarisch verwaltet wird.“
Böhm bezieht mit seiner Familie eine Vierzimmerwohnung in der Zehlendorfer Schaedestraße 8 und beschreibt sein neues Arbeitsgebiet in einem Antrag auf einen Kraftwagen: „Im Besonderen liegt mir Versorgung des großen Siedlungsgebietes von Zehlendorf bis hinter Teltow ob. Es ist ein Gebiet, das in seiner Länge etwa 10 km, in der Breite etwa 3km umfasst mit z. Zt. Etwa 600 Gemeindegliedern, deren Zahl jedoch ständig im Wachsen begriffen ist. In diesem Bezirk sind bisher drei gottesdienstliche Stätten: Ruhlsdorf mit sonntäglichem Gottesdienst und Kindergottesdienst, Haus Schönow und Haus Bethesda mit 14-tägigem Gottesdienst und Kindergottesdienst. Eine neue Predigtstätte wird in Kürze in der Parkkolonie Zehlendorf eingerichtet werden. Außer der Predigtarbeit ist eine intensive Bibelstundenarbeit notwendig. Diese Arbeit wurde bisher an 4 verschiedenen Stätten im Bezirk getrieben. Auch der Konfirmandenunterricht muss an 3 verschiedenen Orten gehalten werden.“
Pfarrer Böhm sammelte, unterstützt von der Gemeindeschwester und Vikaren, im Siedlungsgebiet des östlichen Teltows eine lebendige Gemeinde. Zu den Bibelstunden, Männnerabenden, Näh- und Singestunden versammelte man sich in der Schwesternstation in einem privaten Siedlungshaus. Für die 80 Mitglieder zählende Frauenhilfe wurde ein Raum im Altenheim Bethesda genutzt, das aus Berlin 1929 hierher umgezogen war. In der Kapelle der Stiftung fanden 14-tägig Siedlergottesdienste statt.
Um das Haus Bethesda zu entlasten und die Aktivitäten des Siedlungspfarramtes zu bündeln und zu verbessern, erwog der Kirchenkreis bald die Errichtung eines eigenen Gebäudes. Die Ortskirchengemeinde war bereit, dafür das ihr gehörende Grundstück an der Mahlower Straße zur Verfügung zu stellen. Am 31. Oktober 1934 versammelten sich zu einer Planungsrunde Superintendent Distel, Ortspfarrer Puttkamer und Siedlungspfarrer Böhm, der eremitierte Superintendent des Kirchenkreises Berlin Land II Georg Plath, dem die Rolle als Bauherr zugedacht war und Geheimrat v. Bahrenfeld, der das Projekt wirtschaftliche begleiten sollte. Als Ergebnis der Sitzung wurde Architekt Prof. Wilhelm Wendland beauftragt die Ideen für einen Kindergarten, einem Versammlungsraum für 120 Personen, Schwesternstation mit Wohnung und einem Arbeitsraum für den Siedlungspfarrer in einen Entwurf umzusetzen und mit der Stadt Teltow zwecks Baugenehmigung in Verhandlung zu treten. So kann dieses Treffen am Reformationstag 1934 in der Superintendentur Dahlemer Str. 18 (heute Tietzenweg) als Geburtsstunde der Siedlungskirche angesehen werden.
Die gesamten Kosten des Baues nebst Einrichtung wurden mit .46.580 Reichsmark veranschlagt und aus gestifteten Mitteln und Schenkungen finanziert. Nachdem Architekt Wendland im Januar 1935 bei einem Ortstermin die letzten Bedenken des Gemeindekirchenrates bei einem Ortstermin zerstreuen konnte, wurde das Projekt zügig in Angriff genommen. Der Rohbau konnte bereits im Mai 1935 fertiggestellt werden. Mit der Gestaltung der Eingangstür wurde der Bildhauer Hans Mettel, mit der Ausmalung der Altarwand in der Kapelle der Maler Moritz Melzer beauftragt, dessen Kunst bereits 1933 von der nationalsozialistischen Regierung als „entartet“ erklärt wurde. Für diese Ausmalung gelang es dennoch vom Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Potsdam im Juni 1935 einen Zuschuss von 800 Reichsmark zu erhalten. Im Jahr darauf ereilte auch Hans Mettel ein Berufsverbot. Auch seine Kunst wurde als „entartet“ erklärt.
Die Einweihung des Kindergartens wurde mit einer mit schlichter „Übergabefeier“ und anschließender Kaffeetafel am Sonntag, den 21. Juli 1935 gefeiert. Am darauffolgenden Montag, wurde der Betrieb aufgenommen.
Die an den Kinderhort angeschlossene Kapelle wurde etwas später fertiggestellt und konnte am Sonntag, den 27. Oktober 1935 um 10 Uhr mit einem Gottesdienst eigeweiht werden. Die Feier trug die Handschrift der Bekennenden Kirche: Mit den Mitgliedern des Gemeindekirchenrates und den Geistlichen zog der Bruderrat der Bekenntnisgemeinde in die neue Kapelle ein. Ansprachen hielten Superintendent Distel und der Präses der Bekenntnissynode Pfarrer Kurt Scharf. Die Predigt hielt der Kreispfarrer für Siedlungen Pfarrer Dr. Hans Böhm. Eines der gesungenen Lieder, von Martin Luther 1543 gedichtet, war passend zur kirchenpolitischen Situation ausgesucht:
Erhalt uns Herr bei deinem Wort
und steure deiner Feinde Mord
Die Jesum Christum, deinen Sohn
stürzen wollen von deinem Thron
Mit der Fertigstellung des Gebäudes, so berichtet Pfarrer Böhm, „konnte die Arbeit in Neu-Teltow in viel großzügigerer Weise in Angriff genommen werden“. Er hebt besonders die Bildung einer großen bekennenden Gemeinde unter Leitung eines Bruderrates hervor und schließt seinen Bericht mit dem Ausblick auf „einen verheißungsvollen Anfang eines aufblühenden Gemeindelebens“.
Thomas Karzek