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Kantor Otto Liebau (1876 – 1954) – Der letzte „Lehrer-Organist“ in Teltow
Als der legendäre Lehrer und Kantor Karl Semler(s. Gemeindenachrichten April 2025) im Jahre 1910 in den Ruhestand ging, musste nicht lange auf einen Nachfolger gewartet werden. Auch bedurfte es keiner Ausschreibung durch die Teltower Kirchengemeinde, geschweige denn eines komplizierten Auswahlverfahrens. Der nächste Organist an St. Andreas wurde der Gemeinde quasi von der Königlichen Regierung, Abteilung Kirchen- und Schulwesen „geliefert“: Otto Liebau nahm am 1. Juli 1911 seinen Dienst als Lehrer an der Teltower Stadtschule auf. Sein Lehreramt war verbunden mit dem Dienst als Organist an der St.-Andreaskirche.
Liebau stammte ursprünglich nicht aus der Teltower Region. Er wurde am 30. Dezember 1876 in Asendorf im Regierungsbezirk Merseburg als Sohn des Lehrers Friedrich Liebau geboren. In Barnstedt, Kreis Querfurt wuchs er mit zwei älteren Brüdern auf, als der Vater 1881 an die dortige Volksschule versetzt wurde. Früh entdeckte Otto seine Liebe zur (Kirchen-) Musik: Er erinnert sich, dass er als Knabe von neun Jahren zum ersten mal im Sopran des Kirchenchores mitsingen durfte.
Ausbildung und erste Stellen
Nach dem Abschluss der Oberschule und einer dreijährigen Vorbereitungszeit wurde Otto 1894 am „Königlichen Schullehrer-Seminar“ in Eisleben aufgenommen. An diesem Seminar, dessen Gründung auf Martin Luther selbst zurückgeht, wurden bevorzugt Lehramtskandidaten aufgenommen, die sich bereits in Schul- oder Kirchenchören oder als Kurrendesänger bewährt hatten, liturgische Erfahrungen aus den Gottesdiensten mitbrachten und auch bei Begräbnissen und Hochzeiten als Sänger mitgewirkt hatten.
Seine Abschlussprüfung legte Liebau 1900 ab. Seine Eignung für Kantor- und Organistendienst wurden mit „gut“ benotet, außerdem erhielt er die Befähigung als Musiklehrer für höhere Schulen. Im selben Jahr, am 8. September, heiratete er Anna Wilhelmina Rickelt, die Ehe blieb kinderlos.
1901 wechselte er an die Schule und Kirchengemeinde in Langenreichenbach Audenhain bei Torgau als Lehrer, Organist und Küster. Während dieser Zeit und „das freundliche Entgegenkommen des Gemeindekirchenrates“ belegte er in Halle einen Kursus für Organisten und Kantoren, nahm Gesangstunden und Dirigierunterricht. Nach einer weiteren Station als Lehrer, Organist und Küster in Torgau kam Otto Liebau 1911 nach Teltow, wo er am 1. Juli seinen Dienst als Lehrer und Organist aufnahm.
Wehrdienst und Fortbildungen
Drei Jahre nach seinem Dienstantritt in Teltow wurde Liebau zum Militär einberufen. Er beendete seinen Wehrdienst 1916 mit dem Rang eines Grenadiers und wurde mit dem Verdienstkreuz für Kriegshilfe, Ehrenkreuz des Weltkrieges, sowie der ungarischen und österreichischen Kriegserinnerungsmedaille mit Schwertern ausgezeichnet. Einer erneuten Einberufung zum Kriegsdienst an der Westfront konnte er sich widersetzten. Unter anderem versuchte er zu argumentieren: „Eine neue Einberufung e wäre zu bedauern, da der von mir eingerichtete Jugendchor, der zugleich mit dem Knabenchor der Kirche an den Festtagen im Gottesdienste singt, ohne Führer sein und sich auflösen würde, was der Pflege der Kirchenmusik einen schweren Schlag geben durfte, denn eine Vertretung ist schwer zu beschaffen.“ Sein Antrag zur Zurückstellung vom Wehrdienst erübrigte sich jedoch, da, nach Auskunft der Königlichen Regierung, Abteilung für Kirchen- und Schulwesen, „Liebau nur garnisonsfähig ist, ist seine Einziehung vor dem letztgedachten Termin voraussichtlich nicht zu erwarten und ein Antrag auf Zurückstellung einstweilen gegenstandslos ist“. Währenddessen nutzte Liebau die Gelegenheit der nahen Großstadt, bei anerkannten Kirchenmusikern Musikstudien zu betreiben. Namentlich erwähnt er u. a. die Professoren Koch (Friedenau) Rolle und Carl Thiel (Berlin) sowie den königlichen Musikdirektor Fischer. 1915 legte Liebau seine Prüfung als Gesangslehrer für höhere Lehranstalten ab.
Liebau verblieb an der Teltower Schule. Ein Visitationsbericht von 1929 lässt allerdings vermuten, dass seine Talente vielleicht doch eher auf dem Gebiet der Kirchenmusik lagen: „Herr Liebau muss sich aber darüber im Klaren sein, dass äußere Lebendigkeit der Unterrichtsführung niemals die mangelnde wissenschaftliche Vertiefung in die zur Behandlung stehenden Unterrichtsstoffe ersetzen kann, ebensowenig wie eine wirkliche eigentätige Erarbeitung des Unterrichtsstoffes durch die Schüler, an der es gegenwärtig durchaus fehlt. Die Schülerbücherei ist eingehend zu revidieren und auf einen angemessenen Stand zu bringen…“
Vom Organisten zum Kantor
Zum Erwerb des Titels „Kantor“, durchaus qualifiziert, stellte Liebau 1914 einen entsprechenden Antrag an seine vorgesetzten Behörden und verband damit die Erwartung auch einer Aufstockung seiner Dienstbezüge. Das Verfahren wurde allerdings durch den Vorsitzenden der Schuldeputation, Bürgermeister Palleske in Teltow, ausgebremst. Er widersprach der Verleihung des Kantortitels, bis der Vorwurf eines „unangemessenen Verhaltens auf kommunalpolitischem Gebiete“ geklärt sei. Gegen Liebau und andere Teltower war eine Anzeige anhängig, in der ihm vorgeworfen wurde „ sich politisch und freundschaftlich Männern angeschlossen zu haben, die mit allen, scheinbar zum Teil nicht einwandfreien Mitteln, den Stadtverordnetenvorsteher Zittrich, der auch Mitglied der Schuldeputation war, zu bekämpfen suchte“. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt, sodass Liebau im August 1920 durch den „Evangelischen Oberkirchenrat im Einverständnis mit dem Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung“ der Titel „Kantor“ verliehen wurde.
Und noch einmal geriet Liebau in den Geruch der Aufmüpfigkeit, als der „Organistenverband des Kreises Teltow“ 1919 forderte, den „gesamten Küsterdienst niederzulegen, sowohl die niederen als auch die höheren Dienste einschließlich der Lesegottesdienste und des Leichensingens außerhalb der Kirche. Vom 1. November d. J. werde nur noch das Organisten- und Kantorenamt, also das rein kirchenmusikalische Amt versehen“. Superintendent Macholz nahm seinen Organisten allerdings aus der Schusslinie indem er attestierte, dass „der Organist Liebau sich dem Kreis und den Bestrebungen des Verbandes der Organisten und Kantoren nicht angeschlossen (hat)… Lesegottesdienste und Leichensingen kommen in Teltow auch nicht in Betracht. Er hält aber auch, wie ich weiß, den Kreis für ein des Organistenstandes unwürdiges Gewaltmittel“.
Trennung von Kirche und Staat
Mit Ende der Monarchie und dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung endete 1919 das Prinzip der Staatskirche. Es war nun nicht mehr Aufgabe des Staates, für die materielle und personelle Ausstattung der Kirchengemeinden sowie des gesamten Kirchenapparates zu sorgen. Für die „Lehrer-Organisten“ wurde ein Anteil errechnet, den ihr Dienst an den Kirchengemeinden ausmachte. Dieser Anteil war nun von den Kirchengemeinden an die kommunalen Träger der Schulen zu entrichten. Erst 1937 erreichte die Kirchengemeinde die Aufforderung, das Kantorengehalt für Otto Liebau an ihn selbst und nicht mehr an die Stadtkasse Teltow zu entrichten. Im Prozess der Neuberechnung und des Bezuges eines zweiten, Steuer- und Versicherungspflichtigen Einkommens entstanden Liebau finanzielle Nachteile. 1938 stellt er an die Kirchengemeinde den Antrag, sein Gehalt entsprechend zu erhöhen. Dies wurde vom Gemeindekirchenrat abgelehnt, „ da die Kürzung gesetzlich ist“.
Die Leitung des Chores, die Liebau ausübte, fiel von vorneherein nicht in die Zuständigkeit der Schulbehörde. Für dieses Amt, das von der Kirchengemeinde vergütet wurde, musste Liebau bereits 1934 einen Antrag auf Nebenbeschäftigung stellen. Und noch ein weiteres Amt bekleidete Liebau in Teltow: Er leitete als Chordirigent dens Männergesangsvereins Frohsinn. Hierzu führte er gegenüber der Schulbehörde aus: „Der Chor singt mit in der Kirche, stellt die Männerstimmen für den Kirchenchor. Außerdem wirkt er unentgeltlich bei Veranstaltungen der NSDAP“.
Neue Dienstherren
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und die „Gleichschaltung“ auch der evangelischen Kirche berührte ebenfalls das Gebiet der Kirchenmusik. Zahlreiche „Lehrer-Kantoren“, vor allem diejenigen mit Parteiämtern, gerieten in einen Gewissenkonflikt zwischen den Ansprüchen von Staat und Kirche und legten ihre kirchlichen Ämter nieder. Falls dies auch in Teltow zutreffen sollte, beschloss der Gemeindekirchenrat 1935 vorsorglich: „Falls gesetzliche Bestimmungen zur Neubesetzung der Organistenstelle nötigen, soll der Reichskulturkammer mitgeteilt werden, dass 1.500 M angesetzt werden sollen zur Anstellung (eines) Organisten“. Auch mit einem potentiellen Kandidaten, Herrn Organisten Höing, war man bereits im Gespräch. Ebenso wurde der Beschluss gefasst: „Die Trennung von Kantor und Schulamt soll durchgeführt werden, damit ein Berufsmusiker angestellt werden kann“. Pfarrer Puttkammer erläuterte dies dem Konsistorium: „Bei der wachsenden Gemeinde und der vermehrten Zahl der Amtshandlungen ist es unserem Kantor nicht möglich, vormittags während der Schulzeit die Orgel zu spielen“. „Die Seelenzahl der KG Teltow und Schönow kann jetzt auf 10.000 angegeben werden. In den letzten Monaten sind 15 Trauungen vormittags in der Teltower Kirche ohne Kantor gehalten worden…“
Liebau, die bevorstehende Pensionierung im Blick, dachte jedoch nicht an die Aufgabe seiner Tätigkeiten in der Gemeinde. Er versah weiter seine Dienste und organisierte im September 1935 auch einen Chorausflug, für den der GKR 25 Mark bewilligte. Gleichzeitig entsprach er den Forderungen der neuen Machthaber im Reich und erklärte pflichtschuldigst 1935, „dass ich dem deutschen Lehrerverein angehört habe und dass ich jetzt dem Nationalsozialistischen Lehrerbund angehöre“. Den Diensteid der öffentlichen Beamten auf den Führer hatte er bereits am 29. August 1934 abgelegt. Auch erklärte er 1937, dass ihm nicht bekannt sei, „dass meine Ehefrau oder ich von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammen“.
Letztlich wollte man jedoch den langgedienten Mitarbeiter nicht „vergraulen“ und so beschloss der GKR „den Antrag auf Trennung von Kirchen- und Schulamt zunächst zurückzustellen bis zur Pensionierung des jetzigen Kantors“. Der Eintritt Otto Liebaus in den Ruhestand erfolgte - nach den gesetzlichen Bestimmungen - zum 1. Januar 1939. Im Protokollbuch des Gemeindekirchenrates wurde dazu recht nüchtern Ende 1938 lediglich bemerkt: „Die Pensionsansprüche des Kantors Herrn Liebau sollen geklärt werden und die Anstellung eines hauptamtlichen Organisten erarbeitet werden“.
Otto Liebau und seine Frau verlebten den Ruhestand in ihrer Wohnung in der Bäckerstraße und überlebten die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Der- lt. Sterberegister - „Rektor und Chorleiter“ Otto Liebau verstarb am 23. Mai 1954 im Alter von 78 Jahren an Altersschwäche und wurde am 28. Mai 1954 auf den Teltower Friedhof am Weinbergsweg beigesetzt. Den Trauergottesdienst hielt Pfarre lic. Puttkammer.
Ein neuer „Hauptamtlicher“
Recht bald nach der Pensionierung Liebaus wurde ein Nachfolger in der Person des Kirchenmusikers Walther Schmidt zum 1. April 1939 für zunächst ein Jahr gefunden. Sein Gehalt betrug in der Anfangsstufe 2.100 Mark zuzüglich des Wohnungsgeldes. Doch schon im April traten Differenzen bezüglich seines Gehaltes auf. Ein Antrag des Kirchenmusikers auf ein Fixum als Gehalt wurde vom Gemeindekirchenrat abgelehnt. Die verbleibenden unterschiedlichen Auffassungen in der Gehaltsfrage führten im Dezember zur Absicht des GKR, ihm „nach Einholung von Rechtsberatung vorsorglich zu kündigen“. In der Folge entstanden Vertretungskosten, die ihm im Folgejahr sämtlich vom Gehalt abgezogen wurden. Letztlich einigte man sich ab April 1941 auf einen jährlichen Lohn von 1.000 Mark. Versöhnlicher klang der Beschluss des Gemeindekirchenrates vom 9. Juni 1942: „Für den Organisten Herrn Schmidt wird ein Hochzeitsgeschenk von 100 Mark bewilligt“.
Die Spuren Schmidts verlieren sich in den Wirren des zweiten Weltkrieges. Während die kriegsfähigen Männer in großen Zahlen zum Dienst in der Wehrmacht eingezogen wurden, übernahmen Frauen vielfach die verwaisten Aufgabengebiete in der Heimat. Auch in der Teltower Kirchengemeinde bemühte man sich um die Zurüstung für Vertretungsdienste. Neben einer Gemeindeschwester und Frl. Althaus finanzierte der Gemeindekirchenrat auch der „Frau Pastor“ Puttkammer 20 Orgelstunden. Letztere widmete sich fortan im Besonderen der Kirchenmusik, sodass nach Ende des Krieges 1946 das Organistengehalt unter ihr als Organistin und einer Chorleiterin aufgeteilt wurde.
„Singet und spielet dem Herrn in euren Herzen!“ Diese Aufforderung aus dem Epheserbrief an der Chorempore bringt immer wieder in Erinnerung: Auch in einer Kirche des Wortes ist die Kirchenmusik unersetzlich.
Thomas Karzek